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Lieferkettenresilienz durch Nearshoring in Mittel- und Osteuropa

Interview mit Tomasz Gonsior, Partner bei OptiBuy Ltd.

Die durch die Covid-19-Pandemie verursachten Unterbrechungen haben gewisse Risiken der Globalisierung der Lieferketten aufgedeckt. Einige Unternehmen mag das veranlasst haben, ihre Lieferkettenstrategie zu überdenken. Eine der Entwicklungen, die sich daraus ergeben könnten, ist das Nearshoring. In diesem Bereich bieten Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn hervorragende Möglichkeiten. Tomasz Gonsior, Partner bei OptiBuy, erläutert sie uns im Interview.

Supply Chain

Welche Branchen in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn haben aus der Beschaffungsperspektive das grösste Potenzial? 

In den letzten 30 Jahren haben sich all diese Länder zu kostengünstigen Fertigungszentren für ausländische Investoren, vor allem aus Deutschland, entwickelt. Polen, das rund viermal so gross ist wie jedes der anderen vier Länder, verfügt über eine sehr heterogene Wirtschaft. Die Automobilindustrie ist natürlich einer der Schlüsselsektoren, aber Polen ist auch in anderen Branchen recht stark: Luft- und Raumfahrtkomponenten, Blechbearbeitung, Schweisskonstruktionen, CNC- und Kunststoffverarbeitung. All diese Bereiche werden von unseren internationalen Kunden sehr geschätzt. 

Tschechien hingegen begann aufgrund seiner strategischen Lage, angrenzend an Deutschland und Österreich, sowie seiner Grösse schon früher als Polen, sich in diesem Bereich zu entwickeln, sodass es auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine geeignete Infrastruktur anbieten konnte. Heute konzentriert sich Tschechien hauptsächlich auf die CNC-Bearbeitung, vor allem von Präzisionsteilen mit geringen Toleranzen, die in Polen nur schwer zu finden sind. Weitere attraktive Kategorien sind Stanzen, Werkzeugbau, Kunststoffspritzguss und die Produktion von Bau- und Industrieglas. 

Die Slowakei hat als einziges der vier Länder den Euro eingeführt und wird stark von der Automobilbranche und ihren Zulieferern dominiert. Das Land bietet daher enorme Möglichkeiten im Bereich Automobilkomponenten. Andere Branchen, die eine Überlegung wert sind, sind der Elektronikbereich und die CNC-Bearbeitung.

Die Automobilbranche ist auch in Ungarn relativ gut entwickelt und das Land verfügt über eine solide Basis an Zulieferern in diesem Bereich. Zu den weiteren gut etablierten Industriezweigen gehören Elektronik, Biotechnologie und Fertigteile. Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass Ungarn in allen Bereichen der Fertigung sehr stark ist, z. B. von Komponenten und Modulen für den Maschinenbau und die Automobilbranche.

Welche Kriterien sollten bei der Lieferkettenoptimierung und der Auswahl der dafür geeigneten Materialgruppen berücksichtigt werden?

Bei der Bewertung des Potenzials einer Produktkategorie spielen zwei Faktoren eine Rolle: die Produktkomplexität und die Arbeitsintensität. Mittel- und Osteuropa ist unter Umständen nicht die richtige Wahl für Kategorien mit geringer Arbeitsintensität und hoher Produktkomplexität wie Filter oder komplexe elektronische Komponenten. Der Grund liegt darin, dass die Produktion dieser Materialgruppen im Wesentlichen automatisiert ist und Länder mit niedrigerer Automatisierungsrate nicht über dieselben Wettbewerbsvorteile verfügen.

Das höchste Potenzial bei der Beschaffung in Mittel- und Osteuropa kann in Kategorien mit hoher Arbeitsintensität und geringerer Produktkomplexität wie Kabelsätzen, Ventilen, Gussteilen, Fräs- und Drehteilen, Fertiggussteilen, Schweisskonstruktionen oder der Baugruppenmontage erzielt werden.

In welchen Fällen ist Mittel- und Osteuropa nicht die richtige Wahl, selbst bei hoher Arbeitsintensität und geringer Produktkomplexität?

Unserer Erfahrung nach ist ein entscheidendes Kriterium die Kostenstruktur. Ist der Anteil der Transportkosten hoch, kann der Nachteil dieser Transportkosten den Vorteil der niedrigen Arbeitskosten aufheben.

Dazu kommt, dass heutzutage der Grossteil der Rohstoffe dank einer verlässlichen Lieferantenbasis in diesen Ländern zwar lokal beschafft werden kann, es jedoch schwierig sein kann, seltene Rohstoffe lokal zu finden, wenn diese benötigt werden. In solchen Fällen wäre es weniger sinnvoll, sich seine Lieferanten in diesen Ländern zu suchen. Dennoch ist die Option Nearshoring in den meisten Fällen eine Überlegung wert. 

Welche Erfahrungen haben Sie mit Beschaffungsprojekten in Mittel- und Osteuropa bisher gemacht?

Unserer Erfahrung nach gibt es für jede der interessantesten Beschaffungskategorien wie Schweisskonstruktionen, Bleche und Fertigteile, Werkzeuge oder Kunststoffspritzguss in der ganzen Region insgesamt ca. 150 bis 200 potenzielle Lieferanten.

Die grosse Mehrheit davon spricht mindestens Englisch und manchmal sogar Deutsch.

Der Markt ist stark umkämpft, daher sind die Lieferanten gezwungen, sehr auf Qualität und die Erfüllung internationaler Standards zu achten.

Wenn wir Lieferanten vor Ort besuchen, finden wir in vielen Fällen eine gut ausgestattete Produktionshalle mit einem modernen Maschinenpark vor.

Viele Lieferanten können auch Sekundärleistungen wie Montage, Integration oder Dekoration anbieten.

Die Probleme liegen eher bei Präzisionsteilen mit geringen Toleranzen und in manchen Fällen in hohen Logistikkosten.

Wie bereitet man sich am besten auf ein Nearshoring-Projekt vor?

Da gibt es einige Hausaufgaben zu machen, damit der Übergang zu einem neuen Lieferanten reibungslos gelingt.

Zunächst einmal sollten Sie die technischen und qualitativen Anforderungen genau klären und Zeichnungen mit Ihren bisherigen Teilen abgleichen. Das Problem, das wir manchmal haben, ist dass die Muster der Kunden nicht mit den bereitgestellten technischen Zeichnungen übereinstimmen, was zu Störungen im Projektablauf führt.

Wir empfehlen immer, Lieferanten vor Ort zu besuchen und Audits durchzuführen, statt sich einfach auf Zertifikate zu verlassen.

Da die Schweiz nicht zur Europäischen Union gehört, sollten Sie auch die insgesamt anfallenden Kosten berechnen – einschliesslich Fracht und Zoll.

Stellen Sie sicher, dass der Lieferant die technische Dokumentation in einer anderen Sprache versteht.

Und sorgen Sie zu guter Letzt für die erforderlichen internen Ressourcen in allen beteiligten Bereichen wie Technik- und Testabteilungen, die Sie für einen erfolgreichen Start der Zusammenarbeit brauchen.

Über Tomasz Gonsior

Tomasz Gonsior verfügt über umfassende Erfahrung im Management internationaler Beschaffungsprojekte in der Automobil-, Maschinenbau-, Medizin- und Einzelhandelsbranche – insbesondere mit Kunden aus der DACH-Region. Nach 6 Jahren in der Einkaufsabteilung der Zentrale eines führenden deutschen Automobilherstellers kam er 2010 zu OptiBuy, wo er als einer der Partner derzeit für die Implementierung von E-Procurement-Systemen und IT-Tools verantwortlich ist. Seine Erfahrung und sein Know-how gibt er regelmässig an Studenten sowie Konferenz- und Schulungsteilnehmer weiter.

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